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Statement von Bundeskanzler Olaf Scholz in der Pressekonferenz mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang am 4. November 2022 in Peking
Meine Damen und Herren, es ist gut und richtig, dass ich heute hier in Peking bin. Wir hatten ausführliche und intensive Gespräche, zunächst mit Staatspräsident Xi und jetzt auch mit Ministerpräsident Li.
Dies ist mein Antrittsbesuch als Bundeskanzler in der Volksrepublik China. Staatspräsident Xi und ich haben seit meinem Amtsantritt miteinander telefoniert, auch eine Videokonferenz gehabt und uns in früheren Zeiten auch schon einmal in Hamburg getroffen. Der Ministerpräsident und ich kennen uns auch, aber wir hatten zuletzt nur die Gelegenheit zur Fernkommunikation. Nun hatten wir Gelegenheit, uns persönlich auszutauschen.
Mein Besuch fällt, so viel ist klar, in eine außergewöhnliche Zeit voller globaler Herausforderungen und Krisen, eine Zeit, in der es noch wichtiger ist als sonst, miteinander zu sprechen und im Austausch zu stehen. Der russische Überfall auf die Ukraine hat den Krieg nach Europa zurückgebracht. Mit seinem Angriff auf einen souveränen Nachbarstaat verstößt Präsident Putin nicht nur eklatant gegen das Völkerrecht, er stellt die internationale Friedensordnung in Frage. Gleichzeitig hat Russland mit dem Krieg einen Anstieg der weltweiten Preise für Lebensmittel und Energie verursacht. Das trifft besonders die ärmsten Länder dieser Welt.
China ist ein großes und einflussreiches Land. Als weltpolitischer Akteur und ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen hat China eine Verantwortung für den Frieden in der Welt. Ich habe Präsident Xi gesagt, dass es wichtig ist, dass China seinen Einfluss auf Russland geltend macht. Es geht darum, die Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen, auf die wir uns alle verständigt haben, einzuhalten, Prinzipien wie die Souveränität und die territoriale Integrität eines jeden Landes, wie sie auch China ein wichtiges Anliegen sind.
Russland muss die Angriffe, unter denen die Zivilbevölkerung in der Ukraine täglich leidet, sofort beenden und sich aus der Ukraine zurückziehen. Staatspräsident Xi und ich sind uns einig: Atomare Drohgebärden sind unverantwortlich und brandgefährlich. Mit dem Einsatz von Atomwaffen würde Russland eine Linie überschreiten, die die Staatengemeinschaft gemeinsam gezogen hat. Die jüngste Annahme einer UN-Resolution hat der Weltöffentlichkeit gezeigt: Die übergroße Mehrheit der internationalen Gemeinschaft lehnt die russischen Scheinreferenden und Versuche, Teile der Ukraine zu annektieren, klar ab und wird sie niemals akzeptieren.
Eine Herausforderung, wenn auch eine ganz anderer Art, ist die COVID-19-Pandemie. Seit bald drei Jahren hält sie den Globus im Griff und hat auch nicht vor Landesgrenzen Halt gemacht. Die Coronapandemie hat überall große Probleme verursacht. In Deutschland ist einer der wirksamsten Impfstoffe entwickelt worden, um die Pandemie zu bekämpfen. Mit den Impfungen haben wir die Grundlage geschaffen, die massiven Einschränkungen des täglichen Lebens wieder lockern zu können.
Die deutschen und die chinesischen Ansätze der Coronabekämpfung unterscheiden sich stark. Aber wir haben eine gemeinsame Verantwortung für die Welt, damit das Virus seinen Schrecken verliert. Ich habe mich daher mit dem Präsident und dem Ministerpräsidenten auf eine enge Zusammenarbeit bei der weiteren Pandemiebekämpfung geeinigt. Das beinhaltet auch eine Zulassung des BioNTech-Impfstoffes für Expatriates in China. Dies kann natürlich nur ein erster Schritt sein. Ich hoffe, dass der Kreis der Berechtigten bald erweitert werden kann – bis hin zu einer allgemein freien Verfügbarkeit des BioNTech-Impfstoffs. Wir haben deswegen auch über die Perspektive einer allgemeinen Zulassung von BioNTech in China gesprochen. Eine engere Kooperation mit der EU-Arzneimittelbehörde EMA würde hier den Weg ebnen. Damit würden wir einen konkreten Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten.
Wir haben uns auch darauf geeinigt, den Austausch medizinischen Fachpersonals sowie der Einrichtung eines Dialogs zur Pandemiebekämpfung zwischen dem Robert-Koch-Institut und dem chinesischen Äquivalent auszubauen.
Ein Antrittsbesuch hier fällt in das Jahr, in dem wir auf 50 Jahre diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China zurückblicken. In diesem halben Jahrhundert haben sich unsere bilateralen Beziehungen stark intensiviert. Das gilt auch für den Handel zwischen unseren Ländern. Allerdings müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der wirtschaftliche Austausch mit China in jüngerer Zeit für deutsche Firmen schwieriger geworden ist. Das gilt für den Marktzugang, der von europäischer Seite sehr offen ist, während China viele Sektoren abschottet. Das gilt für den Schutz geistigen Eigentums und auch die Unterbrechung von Wirtschaftsbeziehungen. Zudem stellen wir fest, dass in China immer häufiger Autarkiebestrebungen diskutiert werden, wo früher wirtschaftliche Austausch im Vordergrund stand, und auch politische Zielsetzungen wirtschaftliches Handeln bestimmen. Über all das haben wir ein sehr offenes und ausführliches Gespräch geführt. Ich habe gegenüber meinen Gastgebern betont, wie wichtig es aus unserer Sicht ist, diese Ungleichgewichte zu beheben. Wir unterstützen es, wenn deutsche und europäische Unternehmen ihre Lieferketten breiter absichern und ihre Rohstoffversorgung diversifizieren.
Wichtig ist auch, klar zu sein: Wirtschaftliche Maßnahmen gegen einzelne EU-Mitgliedsstaaten richten sich ja gegen den ganzen EU-Binnenmarkt, und auch Sanktionen gegen EU-Abgeordnete sind für uns nicht akzeptabel.
Die Welt steht vor zahlreichen existenziellen Großkrisen, Herausforderungen, die nur gemeinsam gelöst werden können – mit Europa, China, den USA und anderen großen Staaten. Dazu bedarf es der Partnerschaft zwischen unseren Ländern. Das gilt besonders für den Kampf gegen den Klimawandel, für den Einsatz für Biodiversität, für die Ernährungssicherheit und für den Kampf gegen die weltweite Verschuldung.
Wie China mit der Herausforderung des Klimawandels umgeht, hat angesichts der Größe des Landes und der Wirtschaft entscheidende Bedeutung. Wir wollen deshalb China dabei unterstützen, dass sein Beitrag entsprechend ambitioniert ist. Wir wollen die deutsch-chinesische Zusammenarbeit im Klimaschutz verstärken. Bis zu den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen im nächsten Jahr wollen wir ambitionierte Ziele und Arbeitsfelder unserer Zusammenarbeit vereinbaren, um die vertiefte Kooperation mit Substanz zum Erfolg zu führen, und wir haben vereinbart, dass wir einen Klimatransformationsdialog miteinander organisieren und etablieren.
Unsere natürlichen Lebensgrundlagen sind durch den Verlust an globaler Biodiversität stark gefährdet. Weltweit sind mehr als 35 000 Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Deutschland und China bekennen sich zu einem ambitionierten Abkommen, welches die Ursachen bekämpft, damit der Verlust von Biodiversität bis 2030 gestoppt wird und umgekehrt werden kann. Wir haben heute auch besprochen, gemeinsam auf die beteiligten Staaten zuzugehen und sie aufzufordern, sich ebenfalls für einen Schutz der Biodiversität einzusetzen und ambitionierte Beiträge zu leisten.
Mehr als 700 Millionen Menschen in aller Welt litten im vergangenen Jahr an Hunger. Ihre Ernährungslage hat sich in diesem Jahr wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine noch einmal verschlechtert. Getreidelieferungen fielen aus oder kamen nur sehr spät an. Ich fordere den russischen Präsidenten auf, eine Verlängerung des Getreideabkommens, das in wenigen Tagen ausläuft, nicht zu verweigern. Hunger darf nicht zu einer Waffe werden. Im Rahmen unserer G7-Präsidentschaft hat Deutschland ein Bündnis für globale Ernährungssicherheit aufgelegt. Ich habe Staatspräsident Xi eingeladen, dass sich auch China aktiv daran beteiligt, um den Hunger in der Welt zu lindern.
Die weltweite Schuldensituation der ärmsten Länder verschlechtert sich durch die Coronapandemie und den Krieg in der Ukraine rasant. Die staatlichen Einnahmen schwinden, während die Zins- und Kreditzahlungen weiterhin anfallen. Deutschland und China stehen hier als internationale Kreditgeber besonders in der Verantwortung. Der Präsident und ich haben vereinbart, dass wir beim Thema besonders verschuldeter Länder des globalen Südens im Gespräch bleiben und unsere Berater miteinander über das Vorgehen reden.
Sie sehen: Es gibt eine Reihe von Themen, bei denen eine Zusammenarbeit von Deutschland und Europa mit China etwas bewirken kann. Es ist wichtig, dass wir nach der pandemiebedingten Unterbrechung persönlicher Kontakte endlich wieder von Angesicht zu Angesicht miteinander sprechen können. Persönlich können ‑ das haben die Gespräche heute einmal mehr gezeigt ‑ auch schwierige Themen besser angesprochen werden.
Ich habe heute unsere wachsende Sorge um Stabilität und Frieden in der Region angesprochen. China hat hier eine besondere Verantwortung. Wie die USA und viele andere Staaten verfolgen wir eine Ein-China-Politik. Ich habe gleichermaßen aber auch deutlich gemacht, dass eine Veränderung des Status quo von Taiwan nur friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen darf.
Auch über die Frage der Menschenrechte haben wir gesprochen. Meine Überzeugung ist klar: Menschenrechte sind in ihrer Gültigkeit universell. Das gilt für individuelle Bürger- und Freiheitsrechte genauso wie für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, und das gilt im besonderen Maße für den Schutz von Minderheitenrechten. Alle Mitglieder der Vereinten Nationen haben sich darauf verpflichtet. An diese Verpflichtung zu erinnern und die Umsetzung dieser Rechte anzumahnen, zum Beispiel in der Provinz Xinjiang, ist deswegen keine Einmischung in innere Angelegenheiten. Hier bestehen, das hat unser Gespräch mir gezeigt, Differenzen zwischen unseren Ländern. Darüber hat auch schon der Ministerpräsident geredet. Mir war es wichtig, unsere Überzeugung klarzustellen. Aber so schwierig es ist, wollen wir zu diesem Thema im Gespräch bleiben und haben das auch miteinander verabredet.
Verlässlichkeit und Vertrauen – das sind Werte, die in unseren beiden Kulturen eine besondere Rolle spielen. Sie sind gleichzeitig die Grundlage für diplomatische Beziehungen, politische Partnerschaften und Gespräche. Die globalen Krisen dieser vernetzen Welt machen eines besonders deutlich: Wir sind global so verwoben, dass ein Virus an einem Ende der Welt sich ganz konkret und ganz massiv am anderen Ende der Welt auswirken kann. Die Pandemie hat noch einmal gezeigt: Wir werden die vielen großen Herausforderungen, vor denen unsere Länder stehen, vor denen die ganze Welt steht, nur gemeinsam bewältigen können. Um das deutlich zu machen und auch zu ermuntern, den eigenen Beitrag dazu zu leisten, deshalb bin ich heute hierher nach Peking gereist.