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Rede von Botschafterin Dr. Patricia Flor anlässlich der Feier zum Tag der Deutschen Einheit 2024 am 19. September 2024 in Peking

TdE2024

TdE2024, © Deutsche Botschaft Peking

20.09.2024 - Artikel

Lesen Sie hier die Rede nach.

Sehr geehrter Herr Vizeminister Deng Li,
sehr geehrter Präsident des DAAD, Herr Prof. Joybrato Mukherjee,
Exzellenzen,
liebe Gäste!

Unsere Feier zum Tag der deutschen Einheit ist – wie Sie vielleicht schon am Eingang gesehen haben – dem 300. Geburtstag des Philosophen Immanuel Kant gewidmet. Das mag Sie vielleicht etwas verwundern, aber ich hoffe, dass Sie am Ende dieses Grußworts die Ansicht teilen, dass es ein sehr treffendes und tatsächlich aktuelles Motto ist.

Als Kant 1724 in Königsberg geboren wurde – damals gehörte das zu Preußen, heute zu Russland – war die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg in Europa noch frisch.

Kant musste selbst erleben, dass Friede nicht selbstverständlich ist: 1758 marschierten russische Truppen in Königsberg ein und besetzten es für vier Jahre.

Zitat:

Der Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand

Kant machte sich keine Illusionen über die Natur des Menschen.

Das heißt aber nicht, dass er sich schulterzuckend mit der Realität abgefunden hätte.
Ganz im Gegenteil: Da der Friede kein Naturzustand sei, müsse er gestiftet und abgesichert werden.
Wie er sich das vorstellte, erklärt Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahr 1795.

Ich habe dieses Werk als Studentin gelesen, es viel mit mir herumgereist und steht hier in Peking in meinem Regal. Jahrzehnte später und mit meiner Erfahrung als Diplomatin, sehe ich umso deutlicher, wie sehr Kant – leider – mit einigen seiner Annahmen recht hatte.

Er sagt zum Beispiel – Zitat –:

Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen.

Denn sonst könne kein Frieden geschlossen werden – der Konflikt würde zu einem Ausrottungskrieg.

Was Kant anmahnt, ist die Einhaltung eines Mindestmaßes an Humanität, an Anstand, auch im Krieg – ein Anfang dessen, was heute als humanitäres Völkerrecht Geltung hat.

Hieran zu erinnern, ist in diesen Tagen wieder in erschreckender Weise geboten.

Kant untersucht auch, welche Bedingungen dafür sorgen sollen, dass ein Friede von Dauer ist.

Als erstes nennt Kant hier die innere Verfasstheit der Staaten:

Diese solle „republikanisch“ sein: alle Staatsbürger sollen vor dem Gesetz gleich sein; die Regierung solle den Willen des Volkes repräsentieren.

Denn: Wenn es auf den Willen der Staatsbürger ankommt, die selbst die Last des Krieges tragen müssen,

Zitat:

so ist nichts natürlicher, als daß sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.

Das gilt mittlerweile als empirisch belegt: Es kommt so gut wie nie vor, dass Demokratien gegeneinander Krieg führen.

Anders, so Kant, sei es in einer Verfassung, in der – Zitat

das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer ist.

Wenn Sie das in die heutige Zeit übertragen wollten – woran müssten Sie denken?

Mir fallen einige Beispiele aus der jüngeren Geschichte ein – auch aus der deutschen Geschichte – in denen Diktatoren oder Autokraten aus eigener Machtversessenheit versuchten, die von ihnen beherrschten Flecken auf der Landkarte mit allen Mitteln zu vergrößern.

Die Teilung Deutschlands 1945 war eine direkte Folge von Hitlers Eroberungskriegen. Die friedliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 gelang wiederum nur, weil das demokratische Deutschland den Frieden über die Beherrschung ehemaliger deutscher Territorien stellte, im Einvernehmen mit seinen Nachbarn und eingebettet in die Europäische Union.

Einen Gedanken möchte ich noch aufgreifen aus der Schrift „Zum ewigen Frieden“:

Den des Völkerbundes, und eines Völkerrechts, das auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet ist.

Ein „Friedensbund“ zwischen den Staaten solle dafür sorgen,

Zitat:

alle Kriege auf immer zu endigen.

Im Jahr 1795 beschrieb dieser Gedanke eine ferne Utopie – doch Kants Ideen wirkten fort: sie inspirierten sowohl die Gründung des Völkerbundes 1920 als auch der Vereinten Nationen 1945.

Kant befürchtete aber auch: Ein solcher Friedensbund könne zwar die Neigung der Staaten zu kriegerischen Auseinandersetzungen eindämmen – „doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs“.

Und genau da stehen wir heute wieder: der russische Angriff gegen die Ukraine vor mehr als zwei Jahren fordert die Friedensordnung der Vereinten Nationen heraus.

Es gab auch vorher Konflikte und Kriege; das System der Vereinten Nationen funktionierte gewiss nicht perfekt. Aber dass eine Atommacht, ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates, einem Nachbarstaat das Existenzrecht abspricht und ihn militärisch überfällt – das ist eine neue Qualität.

Russlands Angriffskrieg ist eine existenzielle Bedrohung für Deutschland, für den Frieden in ganz Europa und für die Friedensordnung der Vereinten Nationen.

Deshalb ist es so wichtig, dass der Aggressor Russland diesen Krieg nicht gewinnt.

Deshalb unterstützt Deutschland weiterhin die Ukraine – finanziell, humanitär und auch mit Waffen.

Und allen Zweiflern sage ich hier: das gilt, solange es notwendig ist.

Das hat auch der Bundeskanzler immer wieder bekräftigt.

Das System der Vereinten Nationen hat seine Schwächen, und es bedarf an einigen Stellen der Reform. Aber es bleibt der umfassendste und bislang beste Versuch in der Menschheitsgeschichte, ein globales Friedenssystem zu schaffen. Wer denen hilft, die hieran die Axt anlegen – der sollte sich gut überlegen, was auf dem Spiel steht. China hat als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats eine besondere Verantwortung.

Interessengeleitete Zusammenschlüsse Einzelner werden die Vereinten Nationen jedenfalls nicht ersetzen können. Dies gilt für die Frage von Krieg und Frieden; aber auch für die globalen Probleme, die wir nur gemeinsam lösen können – vor allem die Klimakrise.

Deshalb setzt sich Deutschland für eine Reform und Stärkung der Vereinten Nationen ein. Deshalb kandidieren wir für einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat ab 2027.

Wir stehen für Multilateralismus. Wir stehen für Kooperation. Auch und gerade mit China, bei allen Gegensätzen.

Wir hatten, wie Sie wissen, in diesem Jahr schon den Bundeskanzler zu Besuch, den Vizekanzler und eine Reihe von Ministern. Vizekanzler Robert Habeck und der NDRC-Vorsitzende Zheng Shanjie leiteten gemeinsam die erste Sitzung zum Klima- und Transformationsdialog. Vor zwei Wochen hatten wir ein gemeinsames Seminar hochrangiger Militärs.

Wir begrüßen auch, dass es zwischen Deutschland und China eine vielfältige Zusammenarbeit in der Kultur und im Hochschulbereich gibt. Eine herausragende Rolle spielt dabei der Deutsche Akademische Austauschdienst, dessen Pekinger Büro dieses Jahr 30jähriges Bestehen feiert.

Im Bereich Musik gibt es ebenso enge Beziehungen. Aktuell wird unter Beteiligung mehrerer deutscher Sängerinnen und Sänger erstmals in Peking der Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner aufgeführt – übrigens auch ein Stück über eine Weltordnung, die in einer Götterdämmerung endet.

Sie sehen: Wir arbeiten zusammen. Wir wollen keine Entkoppelung. Wir haben übrigens auch keine Angst vor Wettbewerb. Wir wollen aber, dass der Wettbewerb fair ist und nach transparenten Regeln gespielt wird.

Lassen Sie mich abschließend zu Kant zurückkehren:

Zitat:

Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

so formuliert Kant den Wahlspruch der Aufklärung. Gemeint ist: Nicht die Kirche, nicht der Staat sollten bestimmen, was die Menschen zu denken haben.

Das bedeutet auch heute: Jeder hat das Recht, Autoritäten zu hinterfragen – sei es ein Staat, eine Religion, eine Partei – und zwar im öffentlichen, freien Diskurs. Denn erst der öffentliche Austausch von Argumenten ermöglicht, sich beim Denken nicht auf Vorurteile zu stützen, sondern auf allgemein nachvollziehbare Gründe.

Es ist kein Wunder, dass Kant mit der Zensur Preußens in Konflikt kam.

Zensur – und jede Einschränkung der Freiheit, im öffentlichen Diskurs Argumente und Meinungen auszutauschen – ist das Gegenteil von Aufklärung.

Deshalb ist Meinungsfreiheit so wichtig, aber auch die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft, der Presse.

Auch Kant ist übrigens keine Autorität, die nicht hinterfragt werden dürfte. Er war ein Kind seiner Zeit. Unser heutiger Blick auf andere Kulturen und Völker ist ein ganz anderer, und auch unser Verständnis der Rollen von Frauen, Männern und allen anderen.

Es gäbe noch viel über Kant zu sagen – von mir an dieser Stelle nur noch dieses:

Falls Sie Spaß an Zitaten haben – wir haben hier ein kleines Quiz mit Zitaten von Kant und von chinesischen Denkern, das Sie auf ihrem Mobiltelefon spielen können. Dabei zeigt sich: In manchen Gedanken sind wir uns doch ähnlich, in Europa und in China.

Ich wünsche Ihnen noch eine schöne Feier zum Tag der deutschen Einheit!

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