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Feier zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes - Rede von Botschafterin Dr. Patricia Flor
75 Jahren Grundgesetz, © Deutsche Botschaft Peking
heute vor genau 75 Jahren, am 23. Mai 1949, trat das Grundgesetz in Kraft, die deutsche Verfassung.
Am Anfang dieser Verfassung, in Artikel 1 Absatz 1, steht eine klare, starke Aussage:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Die Autoren des Grundgesetzes – die 61 Männer und vier Frauen des Parlamentarischen Rats – beschrieben mit diesen zwei Sätzen das Gegenprogramm zur nationalsozialistischen Diktatur, die Deutschland zuvor beherrscht hatte:
Ein Regime, in dem Menschen nur Mittel zum Zweck waren. Ein totalitärer Staat, der politische Gegner gnadenlos verfolgte und einen mörderischen Angriffskrieg in Europa begann. Eine Diktatur, die im Namen einer perversen Rassenideologie ganzen Gruppen der Bevölkerung sämtliche Rechte und letztlich ihr Menschsein absprach; und die schließlich, in zuvor nicht gekannter Monstrosität, mehr als 6 Millionen Menschen ermordete:in der übergroßen Mehrheit Juden, aber auch Sinti, Roma, geistig Behinderte, politische Gegner und Andersdenkende.
Nie wieder sollte in Deutschland eine solche Diktatur, ein derart menschenverachtendes System, entstehen können. Das war das erklärte Ziel des Grundgesetzes. Und es ist bemerkenswert, dass am Anfang dieser neuen Verfassung nicht die Organisation des Staates steht, nicht das Parlament, die Gesetzgebung oder die Regierung. Am Anfang des Grundgesetzes steht die Würde des Menschen, gefolgt von einem Katalog der Grundrechte.
Die Würde des Einzelnen zu schützen ist die erste Aufgabe des Staates, sein Daseinszweck. Der Staat des Grundgesetzes ist um des Menschen willen da – nicht der Mensch um des Staates willen.
Klarer lässt sich der Gegensatz zur Diktatur, zum totalitären System kaum beschreiben.
Die Menschenwürde wohnt jedem Menschen inne, unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Religion, Hautfarbe oder Alter. Man muss sie sich nicht verdienen oder erarbeiten, man kann sie auch nicht verlieren – jeder Mensch hat seine unveräußerliche Würde, einfach, weil er ein Mensch ist.
Noch etwas erscheint mir wichtig in diesem Zusammenhang: die Menschenwürde und die ihr folgenden Grundrechte sind Rechte, die gegen den Staat gerichtet sind, die die Macht des Staates über den Einzelnen begrenzen. Und diese Rechte stehen nicht nur auf dem Papier, sie können auch vor Gericht durchgesetzt werden. Ein starkes Verfassungsgericht schützt nicht nur abstrakt die Verfassung, sondern auchjede und jeden, der sich auf seine Grundrechte berufen und sie einklagen kann.
Die Menschenwürde und die im Grundgesetz garantierten Grundrechte sind daher nicht nur ein abstraktes, wolkiges Konzept; sie schützen jeden Einzelnen ganz konkret:
Ø So urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass Sozialleistungsempfänger und auch Asylbewerber einen Anspruch haben auf Leistungen, die ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern. Dazu gehört nicht nur die physische Existenz des Menschen, sondern auch die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.
Ø Niemand darf gefoltert werden.
Ø Der intimste, persönliche Lebensbereich des Einzelnen – zum Beispiel sein Sexualleben – ist besonders geschützt, vor staatlicher Überwachung genauso wie vor Veröffentlichungen in den Medien.
Ø Alle haben das Recht, ihre Meinung frei zu äußern und sich friedlich zu versammeln.
Die Idee der Menschenwürde, philosophisch untermauert durch die Gedanken der Aufklärung, unter anderem von Immanuel Kant, hatte politisch gesehen viele Mütter und Väter. Beginnend mit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts haben Menschen überall auf der Welt, in Europa, in Nord- und Südamerika, in Afrika, in Asien dafür gekämpft, sie in politische Realität zu verwandeln, die jedem und jeder zugute kommt.Wir in Deutschland brauchten nach zwei verlorenen Weltkriegen die wohlwollende Starthilfe der westlichen Alliierten – der USA, Frankreichs und Großbritanniens –, bevor sich erstmals eine stabile Demokratie etablieren konnte – für die ersten vierzig Jahre erst einmal nur im Westen des Landes, in der alten Bundesrepublik Deutschland.
Das Grundgesetz war 1949 eigentlich nur als Übergangsverfassung gedacht – schließlich wurde es zunächst nur in den damaligen Besatzungszonen der Westalliierten eingeführt, nicht in der sowjetischen Besatzungszone. Dort entstand unter sowjetischer Besatzung ein sozialistisches System, die Deutsche Demokratische Republik, die die Würde und Freiheit ihrer Bürgerinnen und Bürger dem Primat der Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands unterwarf.
Doch der Sturz sozialistischer Systeme in den Jahren 1989 und 90 erfasste schließlich auch die DDR. In einem historisch günstigen Moment ergab sich die Chance zur Wiedervereinigung – getragen vom Willen der Deutschen in Ost und West, ohne Gewalt oder Zwang, demokratisch legitimiert, in freier Entscheidung.
1990 gab es die Frage, ob das vereinte Deutschland sich nun auch eine neue Verfassung geben sollte. Doch das Grundgesetz hatte sich über zwei Generationen bewährt und es sah auch den Beitritt der ostdeutschen Bundesländer von Anfang an vor.
Die Deutschen haben „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet“, heißt es seither in der Präambel. „Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“
Heute feiern wir 75 Jahre Grundgesetz und 75 Jahre Bundesrepublik Deutschland. 75 Jahre, in denen dieses Gesetz Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit garantierte. 75 Jahre, in denen – nicht zuletzt dank der europäischen Einigung – Deutsche unter dem Grundgesetz nicht nur in Freiheit, sondern auch in Frieden leben konnten.
Spätestens seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist uns allen bewusst, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. Wir wissen, dass Demokratie, Freiheit und Menschenrechte in der Gesellschaft immer wieder aktiv und durch persönlichen Einsatz mit Leben gefüllt und verteidigt werden müssen – sowohl innerhalb unseres Staates als auch gegen Angriffe von außen.
Gemeinsam als Individuen und zusammen mit unseren europäischen und gleichgesinnten Partnern werden wir überall auf der Welt entschlossen für die Geltung dieses Grundsatzes eintreten: Die Würde des Menschen ist unantastbar!
Vielen Dank!