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Für gleichberechtigte und transparente Zusammenarbeit – Rede der deutschen Botschafterin Dr. Patricia Flor an der Tongji-Universität in Shanghai

Rede der Botschafterin an der Tongji-Universität

Rede der Botschafterin an der Tongji-Universität, © Deutsche Botschaft Peking

02.03.2023 - Artikel

Im Rahmen ihres ersten Besuchs in Shanghai hielt die deutsche Botschafterin an der Tongji-Universität in Shanghai eine Rede zur deutsch-chinesischen Kooperation in den Bereichen Wissenschaft, Innovation und Forschung.

Der Besuch an der Tongji-Universität war gleichzeitig der erste Besuch der Botschafterin an einer chinesischen Universität. Tongji blickt auf eine lange Geschichte des deutsch-chinesischen Austauschs zurück, wurde sie doch 1907 vom deutschen Arzt Dr. Erich Paulun als „Deutsche Medizinschule für Chinesen“ gegründet. Lesen Sie hier nach, was die Botschafterin den Studentinnen und Studenten mitzuteilen hatte:

Innovation und deutsch-chinesische Kooperation

Parteisekretär FANG Shouen,

Prof. LEI Xinghui,

Prof. LOU Yongqi,

Liebe Studierende,

ich freue mich sehr über unseren heutigen Austausch – schön, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Herzlichen Dank für die freundliche Begrüßung.

Für mich persönlich ist dieser Termin ein besonderes Highlight meiner Shanghai-Reise, wenn nicht sogar meines bisherigen China-Aufenthaltes. Es ist auch mein erster Besuch an einer chinesischen Universität.

Ich freue mich ganz besonders, bei Ihnen an der Tongji-Universität zu sein – an einem Ort, der wie kaum ein zweiter für den engen deutsch-chinesischen Austausch steht. 1907 wurde diese Universität von dem deutschen Arzt Dr. Erich Paulun als „Deutsche Medizinschule für Chinesen“ gegründet. Die Tongji war von Anfang an stark international ausgerichtet. Das hat sich ausgezahlt: Durch eine Vielzahl an Kooperationen, insbesondere in den Natur- und Ingenieurswissenschaften, hat sich die Tongji über die Jahrzehnte zu einer der größten und renommiertesten Universitäten Chinas entwickelt.

Einige Absolventen der Tongji sind heute in verantwortungsvollen Positionen in deutschen Unternehmen hier in China. Sie fördern das gegenseitige Verständnis und die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Forschung und Industrie.

Das Netzwerk, das sich hier in Shanghai um die Tongji und deutsch-chinesische Partner entwickelt hat, ist einmalig. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Beteiligten bedanken, die zu diesem Erfolg beigetragen haben, dazu zählen das GK Shanghai, der DAAD, als auch die zahlreichen Wissenschaftsmittler auf deutscher und chinesischer Seite.

Besuch der deutschen Botschafterin an der Tongji-Universität
Besuch der deutschen Botschafterin an der Tongji-Universität © Deutsche Botschaft Peking

Wissenschaft, Innovation & internationale Kooperation

Auch vor dem Hintergrund des 50. Jubiläums unserer bilateralen Beziehungen, das wir im letzten Jahr begangen haben, kommt dem Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern eine besondere Rolle zu. Denn er hat einen entscheidenden Beitrag zu unserem gegenseitigen Verständnis geleistet.

Heute ist Deutschland ein der wichtigsten Destinationen für chinesische Studierende. Chinesische Studierende sind die größte Gruppe ausländischer Studierender in Deutschland. Ähnlich ist es in den deutschen Forschungsgesellschaften: Auch hier stellen chinesische Forschende den größten Anteil ausländisch Beschäftigter. Umgekehrt war bis vor der pandemiebedingten Grenzschließung China für deutsche Studierende eines der sechs beliebtesten Länder für ein Auslandsstudium, siebtwichtigstes Zielland für deutsche Gastwissenschaftler.

Die Tongji hat diesen lebendigen Austausch gewissermaßen institutionalisiert. Neben der Chinesisch-Deutschen Hochschule für angewandte Wissenschaft haben sich eine Reihe weiterer Plattformen und Organisationen entwickelt, wie z.B. das chinesisch-deutsche Hochschullkolleg.

Ihre Universität fungiert seitdem als ein „Fenster nach Deutschland“ mit all seinen Facetten. Sie ist aber, wenn man es genauer betrachtet, auch eine „Tür nach Deutschland“: Vor der Covid-Pandemie, im Jahr 2020, sind rund 1.000 chinesische Studierende Ihrer Universität für einen Austausch nach Deutschland gegangen. Gleichzeitig kamen etwa genauso viele deutsche Studierende nach Shanghai. Um bei diesem Bild zu bleiben: Ich bin sehr froh, dass diese „Tür“ für den deutsch-chinesischen Austausch nun wieder geöffnet ist.

Die enge Hochschulkooperation hat auch auf vielfältige Weise in andere Bereiche hineingewirkt. Die bedeutendsten deutschen Wissenschaftsmittler und Stiftungen sind heute alle in China vertreten. Auch die deutsche Industrie hat von China, seiner lebendigen Wissenschafts- und Forschungslandschaft und seiner Innovationskraft profitiert.

Bis heute zieht China viele ausländische Investitionen an. Sie haben einen entscheidenden Beitrag zu der erfolgreichen chinesischen Wirtschaftsentwicklung geleistet. Gerade deshalb unterstützt China die ausl. Investitionen: Allein die Stadt Shanghai fördert 33 F&E Zentren deutschen Unternehmen vor Ort.

Laut Umfrage der deutschen Auslandshandelskammer in China geht jedes zweite deutsche Unternehmen davon aus, dass chinesische Wettbewerber zukünftig immer stärker die Rolle des Innovationsführers übernehmen. Deutsche Unternehmen zieht das dynamische Innovationsumfeld deswegen weiterhin nach China.

Die Liste erfolgreicher deutsch-chinesisch Kooperationen ist lang und deckt viele Bereiche ab: Von Energie, über Industrie und Umwelt bis hin zu Medizin. Die deutsche Bundesregierung hat in den vergangenen Jahrzehnten einige Forschungsvorhaben unterstützt, die das Leben der Menschen im Alltag konkret verbessert haben. Dazu gehören die Verbesserung der Luftqualität, intelligente Verkehrssteuerung, Medizin- und Medikamentenforschung aber auch die industrielle Fertigung (Industrie 4.0).

An dieser Zusammenarbeit sollten wir festhalten, denn wir können uns den aktuellen globalen Herausforderungen nur gemeinsam stellen. Nur gemeinsam kann es gelingen, Innovationen zu entwickeln, die auch in Zukunft ein friedliches und gesundes Leben auf der Erde ermöglichen.

Die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, kurz SDGs, fassen diese Herausforderungen sehr gut zusammen: Es geht um Ernährungssicherheit und eine klimaresiliente Landwirtschaft, Kreislaufwirtschaft und neue Mobilitätskonzepte, Gesundheitsschutz – die Liste ist lang. Lösungen für diese Herausforderungen zu finden ist eine globale, gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ein aktuelles Beispiel: Die schnelle Entwicklung eines mRNA-Impfstoffes. Noch nicht mal ein Jahr nach dem ersten COVID-Fall, konnten Menschen weltweit mit wirksamen Impfstoffen versorgt und somit schnell und effektiv geschützt werden.

Die Geschichte lehrt, dass nur Ideen mit ganzheitlichem Ansatz nachhaltig wirksam sind. Das bedeutet: Einbeziehung möglichst vieler Gruppen und Perspektiven. Diversität und Toleranz. Das wiederum erfordert von allen Beteiligten Mut, Empathie, Weitsicht, interkulturelles Fingerspitzengefühl – und den echten Willen, etwas zu verändern.

Oftmals sind es internationale Hochschulkooperationen, die ein solches Umfeld schaffen und genau diese Kompetenzen vermitteln.

Am Ende geht es aber nicht nur um technischen Fortschritt, sondern auch darum, diesen Fortschritt in die Gesellschaft zu tragen, Mitstreiter zu gewinnen, neue Lebensrealitäten zu kommunizieren und soziale Akzeptanz zu schaffen – auf globaler und lokaler Ebene.

Aus der Überzeugung heraus, dass Wissenschaft, Forschung und Innovation die beste Wirkkraft in diversen, interdisziplinären und internationalen Teams erreichen, hat die EU das Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe etabliert. Mit einem Volumen von 95,5 Mrd. EUR werden Projekte entlang der UN Sustainable Development Goals, insbesondere im Kampf gegen die Klimakrise gefördert. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollen möglichst schnell in die Anwendung transferiert werden.

Dort werden auch Kooperationen mit Drittstaaten, wie z.B. China gefördert. Die Ziele werden in einer Roadmap und in für beide Seiten geltenden Vereinbarungen festgehalten. Dazu zählen der Schutz geistigen Eigentums, Wissenschaftsfreiheit, Datensicherheit, aber auch die rechtliche Grundlage für die kommerzielle Nutzung der Ergebnisse.

Deutschland und EU möchten perspektivisch weiter mit China kooperieren, dafür müssen sich allerdings beide Seiten ernsthaft und bindend zu einer gleichberechtigen Partnerschaft auf Augenhöhe verpflichten. Aktuell besteht bei vielen deutschen Partnern die Befürchtung vor einem einseitigen Wissenstransfer und technologischem Missbrauch.

Transparenz und Verlässlichkeit müssen also oberste Priorität für eine gelungene internationale Kooperation sein. Diese Art der Kooperation wollen und brauchen wir.

Besuch der deutschen Botschafterin an der Tongji-Universität
Besuch der deutschen Botschafterin an der Tongji-Universität © Deutsche Botschaft Peking

Kreativität & Forschung

Nun haben wir viel über die institutionellen Erfolgsfaktoren von Innovation gesprochen. Ein weiterer kritischer Faktor ist der Mensch selbst. Kreativität und kritische Denkfähigkeit unterscheidet Mensch und Maschine. Wie kann Kreativität in der Forschung entstehen? Dazu möchte ich gerne den deutschen Schriftsteller Erich Kästner zitieren:

„Indes sie forschten, röntgten, filmten, funkten

entstand von selbst die köstlichste Erfindung:

der Umweg als die kürzeste Verbindung

zwischen zwei Punkten.“

Kreativität funktioniert also nicht auf Knopfdruck. Kreativität ist nicht planbar, sie entsteht oftmals durch Zufälle und Perspektivwechsel. Um kreative Prozesse und wissenschaftliche Neugierde in der Forschung zu fördern, brauchen wir Freiräume. Freiräume in der Forschung bedeutet eine Fehlerkultur zu erlauben, Fragen stellen zu dürfen und für objektive Ergebnisse unabhängig von politischen Zielen, Ideologie oder finanziellen Erwägungen einstehen zu können. Im Rahmen der UNO-Erklärung der Menschenrechte wird die Freiheit der Wissenschaft garantiert, ebenso der Schutz geistigen Eigentums.

Nehmen wir als Beispiel die medizinische und pharmazeutische Forschung: Im Schnitt schaffen es nur 1 bis 2 Substanzen von 10.000 zur Marktreife. Die F&E Aufwendungen für Unternehmen liegen dabei in Milliardenhöhe. Denken Sie an all die Forschungsarbeiten, die vermeintlich nicht zum Ziel geführt haben. Aber auch diese Erkenntnisse sind Teil der Forschung.

Leider wissen wir heute aber auch, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht ausschließlich zum Wohle der Menschheit und unserer Umwelt beiträgt. Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart lehren uns, dass wissenschaftlicher Fortschritt auch zu großem menschlichen Leid führen kann. Ein Beispiel ist die Nuklearforschung.

Das EURATOM-Abkommen zwischen EU und China verständigt sich beispielsweise über die friedliche Nutzung der Nuklearforschung. Aber wir leben auch mit der Tatsache, dass Atomwaffen in ihrer Zahl ausreichen, um die Erde zu vernichten. In Europa sind angesichts des Russlands Angriffskrieges in der Ukraine und einer Atomdrohung durch den russischen Präsidenten Putin diese Gefahren sehr konkret geworden. Heute vor einem Jahr hat Russland die Ukraine auf brutalste Weise völkerrechtswidrig überfallen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer erleben täglich unglaubliches Leid und die Menschen in ganz Europa sind Zeuge davon. Das hat viele Europäer völlig unerwartet getroffen.

Für uns ist die Erfahrung von Sicherheit und Frieden daher aktuell hautnah erfahrbar. Besonders Wissenschaftler sollten hinterfragen, wofür ihre Erfindungen eingesetzt werden können. Sind ihre Algorithmen, Sensortechnik oder KI in der Lage, Menschen zu verletzen? Das Überleben der Menschheit zu gefährden?

Ausblick / Zusammenfassung

Anstatt in eine Konfrontation zu treten, sollten wir uns im Sinne einer friedlichen Welt, in der unsere Ressourcen endlich sind, für gleichberechtigte und transparente Zusammenarbeit einsetzen.

Dies geht nur im Dialog, in dem wir offen über Sorgen, Ängste, Missverständnisse oder auch Konflikte sprechen können.

In diesem Sinne: Bleiben Sie offen, interessieren sie sich für Europa, Deutschland und trauen sie sich, Fragen zu stellen.

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